10
Es war milder geworden. Es lag etwas von Freude, von Leichtigkeit in der Luft, samsing in si air. Alle waren unterwegs, um Geschenke zu kaufen, und Josy B. hatte ihre Haare frisch gefärbt. Ein wunderschöner rotbrauner Schimmer, der ihr Brillengestell richtig zur Geltung brachte. Auch Mamadou hatte sich ein wunderbares, künstliches Haarteil gekauft. Eines Abends, als sie zu viert zwischen zwei Stockwerken eine Flasche Sekt köpften, die sie vom Wettgewinn gekauft hatten, hielt sie ihnen einen Vortrag über Haartrachten.
»Wie lange sitzt du beim Friseur, wenn du dir die ganze Stirn so auszupfen läßt?«
»Ach … Nicht so lange. Zwei, drei Stunden vielleicht. Es gibt Frrisuren, die viel länger dauern, weißt du? Bei meiner Sissi zum Beispiel hat es mehr als vier Stunden gedauert.«
»Mehr als vier Stunden! Und was macht sie die ganze Zeit? Ist sie denn brav?«
»Natürlich nicht, natürlich ist sie nicht brav! Sie macht dasselbe wie wir, sie lacht, sie ißt, und sie hört zu, wie wir unsere Geschichten erzählen. Wir erzählen uns viele Geschichten. Viel mehr als ihr.«
»Und du, Carine? Was machst du an Weihnachten?«
»Ich nehm zwei Kilo zu. Und du, Camille, was machst du an Weihnachten?«
»Ich nehm zwei Kilo ab. Nein, war nur ein Scherz.«
»Bist du bei deiner Familie?«
»Ja«, log sie.
»He, wir sind noch nicht fertig«, sagte Super Josy und klopfte auf das Zifferblatt ihrer … etc. etc.
Wie heißen Sie?, las sie auf dem Schreibtisch.
Vielleicht war es reiner Zufall, aber das Foto von seiner Frau und seinen Kindern war verschwunden. Tzz, er war ziemlich leicht zu durchschauen, der Knabe. Sie warf den Zettel weg und fing an zu saugen.
Auch in der Wohnung war die Stimmung weniger drückend. Franck verbrachte die Nacht nicht mehr dort und schoß wie ein Pfeil durch die Wohnung, wenn er nachmittags kam, um sich hinzulegen. Er hatte noch nicht einmal seine neue Anlage ausgepackt.
Philibert verlor kein Wort über das, was sich an jenem Abend hinter seinem Rücken abgespielt hatte, als er im Invalidendom war. Er konnte nicht die geringste Veränderung ertragen. Sein Gleichgewicht hing an einem seidenen Faden, und Camille begann gerade erst die Tragweite seines Handelns in jener Nacht zu begreifen, als er sie zu sich geholt hatte. Wieviel Überwindung es ihn gekostet haben mußte. Sie dachte auch darüber nach, was Franck wegen der Medikamente gesagt hatte.
Er kündigte ihr an, daß er verreisen und bis Mitte Januar abwesend sein würde.
»Kehren Sie in Ihr Schloß zurück?«
»Ja.«
»Freuen Sie sich darauf?«
»Und wie, ich bin froh, meine Schwestern wiederzusehen …«
»Wie heißen sie?«
»Anne, Marie, Catherine, Isabelle, Aliénor und Blanche.«
»Und Ihr Bruder?«
»Louis.«
»Nur Namen von Königinnen und Königen …«
»Oh ja …«
»Und Ihrer?«
»Ach, ich … Ich bin das häßliche Entlein.«
»Sagen Sie das nicht, Philibert. Sie wissen ja, ich habe keine Ahnung von diesen ganzen Aristokratengeschichten, und ich war auch noch nie sehr empfänglich für Adelsprädikate. Um die Wahrheit zu sagen, ich finde sie sogar etwas lächerlich, ein bißchen – antiquiert, aber eins ist sicher: Sie, Sie sind der Prinz. Ein echter Prinz.«
»Oh«, er errötete, »eher ein kleiner Edelmann, ein kleiner Landjunker höchstens.«
»Ein kleiner Edelmann, ja, das ist es. Sagen Sie, glauben Sie, daß wir uns nächstes Jahr duzen könnten?«
»Ah! Da ist sie wieder, meine kleine Frauenrechtlerin! Immerzu Revolutionen. Es würde mir schwerfallen, Sie zu duzen.«
»Mir nicht. Ich würde gern zu Ihnen sagen: Philibert, ich danke dir für alles, was du für mich getan hast, du weißt es zwar nicht, aber in gewisser Weise hast du mir das Leben gerettet.«
Er antwortete nicht. Senkte erneut den Blick.
11
Sie stand früh auf, um ihn zum Bahnhof zu begleiten. Er war so nervös, daß sie ihm die Fahrkarte aus der Hand nehmen und für ihn abstempeln mußte. Sie gingen noch eine heiße Schokolade trinken, aber er rührte seine Tasse nicht an. Je näher die Abfahrt rückte, um so heftiger verzerrte sich sein Gesicht. Seine Ticks waren zurück, und er war erneut der arme Kerl aus dem Supermarkt von gegenüber. Ein großer Junge, bemüht und linkisch, der seine Hände in den Taschen lassen mußte, um sich nicht das Gesicht zu zerkratzen, wenn er die Brille zurechtrückte.
Sie legte ihm die Hand auf den Arm:
»Alles in Ordnung?«
»J… ja, b… bestens, S… Sie haben die Uhr im Blick, nicht … nicht wahr?«
»Sch«, machte sie. »Heee. Es ist alles in Ordnung, alles in Ordnung.«
Er versuchte, ihr zuzustimmen.
»Setzt es Sie so unter Druck, Ihre Familie wiederzusehen?«
»N… nein«, antwortete er und nickte dabei.
»Denken Sie an Ihre kleinen Schwestern.«
Er lächelte sie an.
»Welches ist Ihre Lieblingsschwester?«
»D… die Jüngste.«
»Blanche?«
»Ja.«
»Ist sie hübsch?«
»Sie … Sie ist mehr als das … Sie … sie ist sehr lieb zu mir.«
Sie konnten sich unmöglich umarmen, aber Philibert faßte sie auf dem Bahnsteig an der Schulter:
»Sie … Sie passen gut auf sich auf, nicht wahr?«
»Ja.«
»Fahren Sie zu … zu Ihrer Familie?«
»Nein.«
»Nicht?« Er verzog das Gesicht.
»Ich habe keine kleine Schwester, die den Rest erträglicher machen könnte.«
»Ach.«
Und durchs Fenster nahm er sie ins Gebet:
»Vor … Vor allem, lassen Sie sich von unserem klei… kleinen Bocuse nicht unterkriegen, ja?«
»Nix da«, beruhigte sie ihn.
Er fügte noch etwas hinzu, das aber in der Lautsprecheransage unterging. Vorsichtshalber nickte sie, und der Zug setzte sich in Bewegung.
Sie beschloß, zu Fuß nach Hause zu gehen, und schlug den falschen Weg ein, ohne es zu merken. Anstatt nach links abzubiegen und den Boulevard Montparnasse hinunterzugehen, um so zur Militärakademie zu gelangen, ging sie geradeaus und fand sich plötzlich in der Rue de Rennes wieder. Es lag an den Läden, der Weihnachtsbeleuchtung, dem regen Treiben.
Sie war wie ein Insekt, vom Licht und dem heißen Blut der Menge angezogen.
Sie wäre gern wie sie, eine von ihnen, in Eile, aufgeregt, geschäftig. Sie würde gern in die Geschäfte gehen und Geld ausgeben, um Menschen zu beschenken, die sie liebte. Schon verlangsamte sie ihren Schritt: Wen liebte sie eigentlich? He, nun mal langsam, sagte sie sich und stellte ihren Jackenkragen auf, fang jetzt bitte nicht wieder so an, du hast Mathilde und Pierre und Philibert und deine Feudelkolleginnen. Hier in diesem Juwelierladen würdest du bestimmt irgendwelchen Flitterkram für Mamadou finden, die sich gern herausputzt. Und zum ersten Mal seit langem tat sie, was alle taten, und auch zur gleichen Zeit wie alle anderen: Sie lief durch die Gegend und rechnete ihr dreizehntes Monatsgehalt durch. Zum ersten Mal seit langem dachte sie nicht an den nächsten Tag. Und das war kein Spruch. Es ging ihr sehr wohl um den nächsten Tag. Um morgen.
Zum ersten Mal seit langem kam es ihr vor, als sei der nächste Tag – zu bewältigen. Ja, genau das: zu bewältigen. Sie hatte einen Ort gefunden, an dem sie gerne lebte. Einen seltsamen Ort, ausgefallen wie die Leute, die darin wohnten. Sie umklammerte ihren Schlüssel in der Tasche und dachte an die letzten Wochen zurück. Sie hatte einen Außerirdischen kennengelernt. Ein großzügiges, weltfremdes Wesen, das tausend Meilen über den Wolken schwebte und daraus keinerlei Selbstgefälligkeit zu beziehen schien. Und dann war da noch der andere Spinner. Okay, mit ihm war es komplizierter. Von seinen Motorrädern und seinen Kochtöpfen abgesehen, konnte man mit ihm nicht viel anfangen, aber wenigstens hatte ihn ihr Skizzenheft ergriffen, wobei … ergriffen war doch etwas zu dick aufgetragen … sagen wir eher angesprochen. Es war komplizierter und könnte doch einfacher sein: Die Gebrauchsanweisung erschien kurz und knapp.
Ja, sie hatte schon eine ganze Strecke geschafft, überlegte sie und trottete hinter den Schaufensterbummlern her.
Letztes Jahr um diese Zeit war sie in einem derart erbärmlichen Zustand gewesen, daß sie den Jungs von der Ambulanz, die sie aufgelesen hatten, nicht einmal ihren Namen sagen konnte, und im Jahr davor hatte sie so viel gearbeitet, da hatte sie gar nicht gemerkt, daß Weihnachten war, und ihr »Wohltäter« hatte sich denn auch gehütet, sie daran zu erinnern, damit sie ja nicht aus dem Takt käme. Na also, dann konnte sie es jetzt ja wohl sagen, oder? Konnte die wenigen Worte aussprechen, die ihr noch vor gar nicht allzu langer Zeit im Hals steckengeblieben wären: Es ging ihr gut, sie fühlte sich gut, und das Leben war schön. Uff, es war raus. Aber jetzt nicht rot werden, du dumme Nuß. Und dich nicht umdrehen. Kein Mensch hat gehört, was für einen Unsinn du da von dir gegeben hast, sei unbesorgt.
Sie hatte Hunger. Sie ging in eine Bäckerei und kaufte ein paar Windbeutel. Vollkommene, leichte, süße Teilchen. Sie leckte sich lange die Finger ab, bevor sie sich in einen neuen Laden traute, um für alle eine Kleinigkeit zu besorgen. Parfum für Mathilde, Schmuck für die Mädels, ein Paar Handschuhe für Philibert, Zigarren für Pierre. Konnte man überhaupt konventionellere Geschenke kaufen? Nein. Es waren die idiotischsten Weihnachtsgeschenke der Welt, und sie waren perfekt.
Sie beschloß ihren Einkaufsbummel nahe der Place Saint-Sulpice und ging in eine Buchhandlung. Auch das war seit langem das erste Mal. In derlei Läden wagte sie sich nicht mehr hinein. Schwer zu erklären, aber es tat zu weh, es … es war … Nein, so konnte sie das nicht sagen. Diese Niedergeschlagenheit, diese Feigheit, dieses Risiko, das sie nicht mehr auf sich nehmen wollte. Eine Buchhandlung zu betreten, ins Kino zu gehen, Ausstellungen zu besuchen oder einen Blick in die Schaufensterauslagen der Kunstgalerien zu werfen bedeutete, den Finger auf ihre Mittelmäßigkeit zu legen, ihren Kleinmut, und sich daran zu erinnern, daß sie eines Tages voller Verzweiflung das Handtuch geworfen und seitdem nicht wieder aufgehoben hatte.
Welchen dieser Orte, die ihre Legitimation aus der Sensibilität einzelner bezogen, sie auch betreten würde, er würde sie daran erinnern, daß ihr Leben müßig war.
Da waren ihr die Abteilungen eines Supermarkts lieber.
Wer konnte das verstehen? Kein Mensch.
Es war ein inniger Kampf. Der unsichtbarste von allen. Auch der schmerzlichste. Und wie viele Abende mit Putzen, Einsamkeit und lästigen Klos mußte sie noch über sich ergehen lassen, um damit fertig zu sein?
Sie mied zunächst die Abteilung der »Schönen Künste«, die sie in- und auswendig kannte, weil sie zu Zeiten, da sie versucht hatte, an der gleichnamigen Hochschule zu studieren, häufig dagewesen war, und später dann aus weniger ruhmreichen Motivationen heraus. Sie hatte im übrigen nicht die Absicht, dorthin zurückzukehren. Es war zu früh. Oder auch zu spät. Wie die Geschichte mit dem Grund, den man berühren mußte, um sich wieder abzustoßen. Vielleicht war sie an einem Punkt in ihrem Leben angekommen, wo sie nicht mehr auf die Hilfe der großen Meister zählen sollte?
Seit sie einen Stift halten konnte, hatte man ihr immer wieder gesagt, wie begabt sie sei. Sehr begabt. Zu begabt. Zu vielversprechend, viel zu vorwitzig oder zu verwöhnt. Häufig aufrichtig, andere Male zweischneidiger, hatten diese Komplimente sie nicht weitergebracht, und heute, da sie nur mehr wie besessen Skizzenhefte füllen konnte, an denen sie wie eine Klette hing, würde sie wohl gut und gerne ihre zwei Fässer Fingerfertigkeit gegen ein wenig Arglosigkeit eintauschen. Oder gegen eine Zaubertafel. Schwuppdiwupp! Nichts mehr da. Null Technik, null Referenzen, null Wissen, alles weg. Noch mal von vorn.
Einen Kugelschreiber, siehst du … den hält man zwischen Daumen und Zeigefinger. Das heißt, gar nicht mal, den hält man, wie man will. Dann ist es nicht schwer, du denkst nicht mehr darüber nach. Deine Hände existieren nicht mehr. Das Ganze spielt sich woanders ab. Nein, so nicht, das ist viel zu schön. Wir wollen nicht, daß du etwas Schönes machst, weißt du? Wir pfeifen auf das Schöne. Dafür gibt es Kinderzeichnungen und das Glanzpapier der Illustrierten. Komm, zieh dir ein Paar Fausthandschuhe über, du kleines Genie, du kleine leere Muschel, aber ja doch, zieh sie an, sag ich, und du wirst sehen, vielleicht schaffst du es dann endlich, einen fast perfekten mißglückten Kreis zu zeichnen.
Sie schlenderte also zwischen den Büchern entlang. Sie fühlte sich verloren. Es gab so viele, und sie war seit langem nicht mehr auf dem laufenden, was die Neuerscheinungen betraf, so daß sie von den ganzen roten Banderolen einen Drehwurm bekam. Sie sah sich die Einbände an, las den Klappentext, sah nach, wie alt die Autoren waren, und verzog das Gesicht, wenn sie jünger waren als sie. Das war als Auswahlkriterium nicht wirklich gescheit. Sie ging weiter in die Taschenbuchabteilung. Das schlechtere Papier und die kleingedruckten Buchstaben wirkten weniger einschüchternd auf sie. Das Cover von diesem hier, ein Junge mit Sonnenbrille, war ziemlich häßlich, aber der Anfang gefiel ihr:
Dürfte ich nur eine einzige Begebenheit aus meinem Leben berichten, wählte ich diese: Ich war sieben Jahre alt, als der Postbote meinen Kopf überfuhr. Kein Erlebnis hat mich so geprägt wie dieses. Mein chaotisches, zielloses Leben, mein versehrtes Gehirn und mein Glaube an Gott, meine Zusammenstöße mit Freud und Leid – alles entspringt auf die eine oder andere Art jenem Augenblick an einem Sommermorgen, als der linke Hinterreifen eines US-Mail-Jeeps meinen kleinen Kopf in den heißen Kies des Apachen-Reservates von San Carlos malmte.
Ja, das klang nicht schlecht. Außerdem war das Buch schön quadratisch, ziemlich dick, ziemlich dicht beschrieben. Es enthielt Dialoge, Auszüge aus Briefen und schöne Untertitel. Sie blätterte weiter und las gegen Ende des ersten Drittels:
»Gloria«, sagte Barry mit seiner aufgesetzten Arztstimme. »Hier ist Edgar, dein Sohn. Er hat lange auf ein Wiedersehen gewartet.«
Meine Mutter warf Blicke auf alles mögliche in der Küche, nur nicht auf mich. »Gibt es noch was?« fragte sie Barry mit hoher, zitternder Stimme, und meine Eingeweide krampften sich zusammen.
Barry seufzte, öffnete den Kühlschrank und holte eine Dose Bier heraus. »Das ist die letzte. Später besorgen wir Nachschub.« Er stellte sie vor meine Mutter auf den Tisch und gab ihrem Stuhl einen sanften Schubs. »Gloria, das ist dein Junge. Hier ist er.«
Dem Stuhl einen sanften Schubs geben. Vielleicht war das die richtige Methode?
Als sie gegen Ende auf diesen Abschnitt stieß, klappte sie das Buch zuversichtlich wieder zu:
Das ist nicht weiter schwierig, wirklich. Ich gehe herum, den Notizblock in der Hand, und die Leute legen ihr Innerstes bloß. Sobald ich vor ihren Türen auftauche, erzählen sie mir ihre Lebensgeschichte, berichten von ihren kleinen Triumphen, ihrer versteckten Wut und ihren geheimen Versäumnissen. Normalerweise stecke ich den Notizblock weg, er ist ohnehin nur Show, und höre geduldig zu, bis sie alles gesagt haben. Der Rest ist einfach. Ich gehe nach Hause, setze mich an meine Hermes Jubilee und tue, was ich seit zwanzig Jahren täglich getan habe, tippe alles, und sei es noch so unbedeutend.
Ein zerquetschter Kopf in der Kindheit, eine Mutter, die geistig weggetreten ist, ein kleines Notizheft tief in der Hosentasche.
Was für eine Phantasie.
Ein Stück weiter sah sie das neue Buch von Sempé. Sie nahm ihren Schal ab und steckte ihn zusammen mit dem Mantel zwischen die Beine, um sich ihrer Freude noch bequemer hingeben zu können. Langsam blätterte sie die Seiten um und bekam wie immer rosige Wangen. Sie mochte nichts lieber als diese kleine Welt von großen Träumern, die sichere Strichführung, die Gesichter der Figuren, die Markisen der Vorstadtbungalows, die Regenschirme der alten Frauen und die unendliche Poesie der Situationen. Wie machte er das? Woher nahm er das alles? Sie erkannte die Kerzen, die Weihrauchfässer und den großen barocken Altar ihrer bevorzugten Betschwester. Dieses Mal saß sie ganz hinten in der Kirche, hatte ein Handy in der Hand, drehte sich um und hielt eine Hand vor den Mund: »Marthe? Hier ist Suzanne. Ich bin gerade in der Sainte-Eulalie-de-la-Rédemption. Hast du irgendwas, das ich noch anbringen könnte?«
Zuckersüß.
Ein paar Seiten weiter drehte sich ein Herr um, als er hörte, wie sie vor sich hinlachte. Dabei war es nichts: eine dicke Frau, die sich an einen Konditor wandte, der mitten in der Arbeit steckte. Er hatte eine Bäckermütze auf dem Kopf, sah leicht frustriert aus und hatte einen charmanten Kugelbauch. Die Frau sagte: »Das Leben ist weitergegangen. Ich habe wieder geheiratet. Aber vergessen konnte ich dich nie, Roberto.« Und sie trug einen Hut in Kuchenform, eine Art Sahnetorte, die exakt so aussah wie die Torten, die der Konditor gerade zubereitete.
Es war fast nichts, zwei, drei Tuschestriche, und doch sah man sie mit den Wimpern klimpern, mit nostalgischer Sehnsucht und der grausamen Nonchalance derer, die sich noch begehrt wissen. Kleine Ava Gardner vom Lande, kleine Femme fatale mit Haartönung.
Sechs winzige Striche, mehr nicht. Wie machte er das?
Camille legte das Wunderwerk wieder weg und kam zu dem Schluß, daß die Welt zweigeteilt war: in diejenigen, die Sempés Zeichnungen verstanden, und jene, die sie nicht verstanden. So naiv und rigoros sie auch scheinen mochte, sie hielt die Theorie durchaus für haltbar. Zum Beispiel kannte sie eine Person, die sich jedesmal, wenn sie in einem Paris-Match blätterte und eine dieser kleinen Szenen entdeckte, regelrecht lächerlich machte: »Ich weiß wirklich nicht, was daran witzig sein soll. Es muß mir mal jemand erklären, wann man hier lachen soll.« Sie hatte kein Glück, diese Person war ihre Mutter. Nein, sie hatte kein Glück.
Als sie zu den Kassen ging, begegnete sie dem Blick von Vuillard. Auch hier war es kein Spruch: Er sah sie an. Mit zärtlichem Blick.
Selbstporträt mit Stock und Kreissäge. Sie kannte das Bild, hatte aber noch nie eine derart große Reproduktion gesehen. Es war das Cover eines riesigen Katalogs. Dann lief zur Zeit wohl eine Ausstellung? Nur wo?
»Im Grand Palais«, bestätigte ihr einer der Verkäufer.
»Ja?«
Eine seltsame Fügung. Sie hatte in den letzten Wochen ununterbrochen an ihn gedacht. Ihr Zimmer mit den überladenen Wandbehängen, der Stola auf dem Kanapee, den bestickten Kissen, den Teppichen, die sich ineinander verfingen, und dem gedämpften Licht der Lampen. Mehr als einmal hatte sie das Gefühl gehabt, sich mitten in einem Gemälde von Vuillard zu befinden. Dasselbe Gefühl von warmem Bauch, von Kokon, zeitlos, beruhigend, erstickend, aber auch erdrückend.
Sie blätterte noch ein wenig in dem Ansichtsexemplar und wurde von grenzenloser Bewunderitis gepackt. Wie schön es war. Wie schön. Diese Frau von hinten, die eine Tür aufmachte. Ihre rosa Bluse, ihr langes schwarzes Etuikleid und der perfekte Hüftschwung. Wie hatte er diesen Moment bloß eingefangen? Den leichten Hüftschwung einer eleganten Frau von hinten?
Nur mit ein bißchen schwarzer Farbe?
Wie war dieses Wunder möglich?
Je reiner die Mittel, um so reiner das Werk. In der Malerei gibt es zwei Gestaltungsmittel, Form und Farbe, je reiner die Farben, um so reiner die Schönheit des Werks.
In ihrem Tagebuch wurden diese Leitsätze gebetsmühlenartig wiederholt.
Seine schlafende Schwester, der Nacken von Misia Sert, die Ammen in den Parks, die gemusterten Kleider der Mädchen, das Porträt von Mallarmé mit bleigrauem Teint, die Studien für das Porträt von Yvonne Printemps, dieses niedliche Raubtiergesicht, die vollgekritzelten Seiten seines Kalenders, das Lächeln von Lucie Belin, seiner Geliebten. Ein Lächeln auf die Leinwand zu bannen ist völlig unmöglich, und doch war es ihm gelungen. Seit fast einem Jahrhundert lächelt uns diese junge Frau, die wir in ihrer Lektüre unterbrachen, zärtlich an und scheint uns mit einer kleinen Bewegung ihres müden Nackens sagen zu wollen: »Ach, du bist’s?«
Und diese kleine Leinwand hier, die kannte sie nicht. Es war im übrigen keine Leinwand, sondern ein Karton. Die Gans. Genial. Vier Männer, von denen zwei in Abendkleidung steckten und Zylinder trugen, versuchten eine aufmüpfige Gans einzufangen. Diese Vielfalt an Farben, die Schroffheit der Kontraste, die Inkohärenz der Perspektiven. Oh! Wieviel Spaß mußte er an jenem Tag gehabt haben!
Eine gute Stunde und einen steifen Hals später nahm sie schließlich die Nase aus dem Buch und sah auf den Preis: autsch, neunundfünfzig Euro. Nein. Das kam nicht in Frage. Nächsten Monat vielleicht. Für sich selbst hatte sie bereits eine andere Idee: ein Musikstück, das sie unlängst beim Fegen der Küche im Radio gehört hatte.
Altüberlieferte Gesten, altsteinzeitlicher Besen und abgenutzte Fliesen, sie fluchte gerade zwischen zwei Cabochonsteinen, als eine Sopranstimme dafür sorgte, daß sich ihr nach und nach die Haare auf dem Unterarm aufstellten. Sie hatte sich der Sprecherin genähert und die Luft angehalten: Nisi Dominus, Vivaldi, Vespri Solenni per la Festa dell’Assunzione di Maria Vergine.
Gut, genug geträumt, genug gesabbert, genug ausgegeben, jetzt war es an der Zeit, zur Arbeit zu gehen.
Heute abend dauerte es länger wegen der Weihnachtsfeier, die der Betriebsrat eines Unternehmens organisiert hatte, für das sie zuständig waren. Josy schüttelte mißbilligend den Kopf, als sie das Chaos kommentierte, und Mamadou staubte zig Mandarinen und Kekse für ihre Kinder ab. Sie verpaßten allesamt die letzte Metro, aber das machte nichts: Proclean zahlte ihnen das Taxi! Luxus pur! Jede suchte sich glucksend ihren Fahrer aus, und sie wünschten sich im voraus fröhliche Weihnachten, denn nur Camille und Samia hatten sich für den 24. eingetragen.
12
Am nächsten Tag, einem Sonntag, aß Camille bei den Kesslers. Es gab kein Entkommen. Sie waren nur zu dritt und unterhielten sich recht angeregt. Keine heiklen Fragen, keine ausweichenden Antworten, kein betretenes Schweigen. Ein richtiger Weihnachtsfrieden. Das heißt, doch! Als sich Mathilde nach den Lebensumständen in ihrem Dienstmädchenzimmer erkundigte, hatte Camille ein wenig lügen müssen. Sie wollte ihren Umzug nicht erwähnen. Noch nicht. Vorsicht. Der kleine Kläffer war noch nicht verschwunden, und ein Psychodrama konnte sehr wohl ein anderes verdecken.
Als sie ihr Geschenk in Händen hielt, sagte sie überzeugt:
»Ich weiß, was es ist.«
»Nein.«
»Doch!«
»Na, sag schon. Was ist es?«
Das Päckchen war in Packpapier eingeschlagen. Camille machte die Verschnürung auf, legte es direkt vor sich hin und holte ihren Druckbleistift heraus.
Pierre labte sich daran. Wenn sie nur wieder anfangen würde, diese Närrin.
Als sie fertig war, zeigte sie ihm das Bild: die Kreissäge, der rote Bart, die Augen groß wie Hosenknöpfe, die dunkle Jacke, die Türeinfassung und der gedrechselte Knauf, es sah aus, als hätte sie das Cover abgepaust.
Pierre brauchte einen Moment, bevor er verstand:
»Wie hast du das gemacht?«
»Ich habe es mir gestern über eine Stunde lang angeschaut.«
»Hast du es schon?«
»Nein.«
»Uff.«
Dann:
»Hast du wieder angefangen?«
»Ein bißchen.«
»So was wie das hier?« fragte er und zeigte auf das Porträt von Edouard Vuillard, wieder das dressierte Hündchen?
»Nein, nein. Ich … Ich fülle meine Skizzenhefte, nichts Dolles also, Kleinkram im Grunde.«
»Macht es dir wenigstens Spaß?«
»Ja.«
Er frohlockte:
»Aaah, wunderbar. Zeigst du mir die Sachen?«
»Nein.«
»Und wie geht es deiner Mutter?« fiel die ach so diplomatische Mathilde ein. »Immer noch am Rande des Abgrunds?«
»Eher auf dem Grund.«
»Dann ist ja alles in Ordnung, oder?«
»Bestens«, lächelte Camille.
Den restlichen Abend schwangen sie große Reden über die Malerei. Pierre kommentierte Vuillards Arbeit, suchte nach Ähnlichkeiten, zog Parallelen und verlor sich in unendlichen Exkursen. Er stand mehrmals auf, um in seiner Bibliothek den Beweis für seine scharfen Analysen zu holen, und nach einiger Zeit war Camille ganz an den Rand des Kanapees gerückt, um Maurice (Denis), Pierre (Bonnard), Félix (Valloton) und Henri (de Toulouse-Lautrec) ihren Platz zu überlassen.
Als Händler war er anstrengend, doch als aufgeschlossener Kunstliebhaber eine wahre Freude. Natürlich erzählte er auch dummes Zeug – wer tat das nicht in der Kunst? –, aber er drückte es wunderschön aus. Mathilde gähnte, und Camille leerte die Flasche Champagner. Piano ma sano.
Als sein Gesicht schon fast hinter den Rauchschwaden der Zigarre verschwunden war, bot er ihr an, sie nach Hause zu fahren. Sie
lehnte ab. Sie hatte zuviel gegessen und brauchte einen langen Spaziergang.
Die Wohnung war leer und kam ihr viel zu groß vor. Sie zog sich in ihr Zimmer zurück und verbrachte die zweite Hälfte der Nacht mit der Nase in ihrem Geschenk.
Sie schlief am Vormittag ein paar Stunden und gesellte sich früher als sonst zu ihrer Kollegin, es war Heiligabend, und die Büros leerten sich um fünf Uhr. Sie arbeiteten schnell und schweigend.
Samia ging als erste, und Camille blieb noch einen Moment, um mit dem Wachmann zu scherzen:
»Und der Bart und die Mütze, ist das Pflicht?«
»Hm, nein, das war eine Initiative von mir, um Eindruck zu schinden.«
»Und hat es funktioniert?«
»Pff, von wegen. Den Leuten ist das schnurzegal. Nur meinen Hund hat das beeindruckt. Er hat mich nicht erkannt und mich angeknurrt, dieser Trottel. Ich hatte ja schon blöde Hunde, da kann ich ein Lied von singen, aber der hier schießt den Vogel ab.«
»Wie heißt er?«
»Matrix.«
»Eine Hündin?«
»Nein, warum?«
»Eh … nur so. Okay, tschüß dann. Fröhliche Weihnachten, Matrix«, sagte sie zu dem dicken Dobermann, der neben ihren Füßen lag.
»Wart nicht darauf, daß er dir antwortet, der versteht gar nix, sag ich dir.«
»Nee, nee«, antwortete Camille lachend, »darauf warte ich nicht.«
Dieser Typ war Laurel und Hardy in einer Person.
Es war kurz vor zweiundzwanzig Uhr. Elegant gekleidete Menschen liefen in alle Richtungen, den Arm voller Päckchen. Den Frauen schmerzten in ihren Lackschühchen schon die Füße, die Kinder liefen zwischen den Betonpollern im Zickzack, und die Herren warfen vor den Sprechanlagen einen Blick in ihre Adreßbücher.
Amüsiert verfolgte Camille das Treiben. Sie hatte es nicht eilig und reihte sich vor einem edlen Feinkosthändler in die Schlange, um sich ein gutes Abendessen zu gönnen. Oder vielmehr eine gute Flasche. Was den Rest anging, war sie ziemlich unentschlossen. Schließlich zeigte sie dem Verkäufer ein Stück Ziegenkäse und zwei Nußbrötchen. He, es sollte ja vor allem eine Grundlage für ihr Fläschchen sein.
Sie öffnete die Flasche und stellte sie neben den Heizkörper, um sie zu temperieren. Zuerst war sie selbst dran. Sie ließ sich Badewasser einlaufen und blieb über eine Stunde in der Wanne, bis zur Nase im heißen Wasser. Sie zog einen Schlafanzug an, dicke Strümpfe und entschied sich für ihren Lieblingspullover. Einen sündhaft teuren Kaschmirpullover, Überbleibsel aus vergangenen Tagen. Sie packte Francks Stereoanlage aus, baute sie im Wohnzimmer auf, richtete sich ein Tablett, machte alle Lichter aus und rollte sich unter der Daunendecke auf dem alten Kanapee zusammen.
Sie überflog das Heftchen mit den Titeln, das Nisi Dominus befand sich auf der zweiten CD. Tja, die Vesper vor Christi Himmelfahrt war ja nicht wirklich die passende Messe, außerdem würde sie die Psalmen in der falschen Reihenfolge hören, der reinste Blödsinn.
Aber na und?
Na und?
Sie drückte auf den Knopf der Fernbedienung und schloß die Augen: Sie war im siebten Himmel.
Allein in dieser riesigen Wohnung, ein Glas Nektar in der Hand, hörte sie die Engel singen.
Sogar die Gehänge des Lüsters bebten vor Wonne.
Cum dederit dilactis suis somnum.
Ecce, haereditas Domin filii: merces fructus ventris.
Das hier war das Stück Nummer 5, das Stück Nummer 5 hatte sie jetzt bestimmt schon vierzehnmal gehört.
Und noch beim vierzehnten Mal zersprang ihr Brustkorb in tausend Stücke.
Einmal, als sie allein im Auto unterwegs waren und sie ihn gefragt hatte, warum er immer wieder dasselbe Lied höre, hatte ihr Vater geantwortet: »Die menschliche Stimme ist das schönste Instrument überhaupt, das ergreifendste. Selbst der größte Virtuose der Welt würde niemals auch nur ein Viertel der Hälfte an Emotionen auslösen wie eine schöne Stimme. Das ist unser Anteil am Göttlichen. Das erkennt man, wenn man älter wird, glaube ich. Jedenfalls hat es bei mir lange gedauert, bis ich es begriffen habe, aber sag … Willst du was anderes hören? Sur le pont d’Avignon?«
Sie hatte schon die halbe Flasche ausgetrunken und gerade die zweite CD aufgelegt, als das Licht anging.
Es war entsetzlich, sie hielt sich die Hände vor die Augen, und die Musik kam ihr völlig deplaziert vor, die Stimmen unpassend, geradezu näselnd. Binnen zwei Minuten fand sich alle Welt im Fegefeuer wieder.
»Ach, du bist hier?«
»…«
»Bist du nicht bei dir zu Hause?«
»Oben?«
»Nein, bei deinen Eltern.«
»Nein, wie du siehst.«
»Hast du heut gearbeitet?«
»Ja.«
»Na dann, Entschuldigung, eh, Entschuldigung … Ich dachte, es war keiner da.«
»Nix passiert.«
»Was ist das, was du da hörst? Castafiore?«
»Nein, eine Messe.«
»Ehrlich? Bist du gläubig?«
Sie mußte ihn unbedingt ihrem Wachmann vorstellen. Sie gäben ein gutes Paar ab, die beiden. Noch besser als die beiden Alten in der Muppet Show.
»Nein, nicht besonders. Würdest du bitte das Licht ausmachen?«
Er kam der Aufforderung nach und ging aus dem Zimmer, aber es war nicht mehr dasselbe. Der Zauber war dahin. Sie war ernüchtert, und auch das Kanapee hatte nicht mehr die Form einer Wolke. Sie versuchte sich zwar zu konzentrieren, nahm das Titelheft in die Hand und sah nach, wo sie war:
Deus in adiutorium meum intende.
Gott steh mir bei!
Ja, das war’s.
Offensichtlich suchte der Tölpel etwas in der Küche und rächte sich brüllend an allen Schranktüren:
»Sag mal, du hast nicht zufällig die zwei gelben Tupperdinger gesehen?«
Ach, du Elend.
»Die großen?«
»Ja.«
»Nein. Ich hab sie nicht angerührt.«
»He, Scheiße Mann. In dieser Bruchbude findet man nichts wieder. Was macht ihr nur mit dem ganzen Geschirr? Eßt ihr es mit oder was?«
Camille drückte auf Pause und seufzte:
»Darf ich dir eine indiskrete Frage stellen? Warum suchst du um zwei Uhr morgens an Heiligabend ein gelbes Tupperteil?«
»Darum. Ich brauch es.«
Okay, alles hinüber. Sie stand auf und machte die Musik aus.
»Ist das meine Anlage?«
»Ja. Ich habe mir erlaubt …«
»Mannomann, die ist ja superklasse. Da hast du dich aber ganz schön verausgabt!«
»Eh ja, da habe ich ganz schön was verausgabt.«
Er sperrte seine Hechtaugen auf:
»Warum plapperst du mir alles nach?«
»Nichts für ungut. Fröhliche Weihnachten, Franck. Komm, wir suchen deine Schüsseln gemeinsam. Da, siehst du, auf der Mikrowelle.«
Sie setzte sich auf das Kanapee, während er den Kühlschrank verrückte. Anschließend ging er ohne ein Wort durchs Zimmer, um zu duschen. Camille versteckte sich hinter ihrem Glas: Sie hatte vermutlich den ganzen Heißwasserboiler geleert.
»Scheiße, wer hat denn das ganze heiße Wasser aufgebraucht?«
Eine halbe Stunde später kam er zurück, in Jeans, mit nacktem Oberkörper.
Lässig zögerte er den Moment hinaus, bis er den Pulli anzog. Camille lächelte: Das war nicht mehr die trapsende Nachtigall, das war die Methode mit dem Zaunpfahl.
»Darf ich?« fragte er und zeigte auf den Teppich.
»Fühl dich wie zu Hause.«
»Ich glaub’s nicht, du ißt was?«
»Käse und Trauben.«
»Und davor?«
»Nichts.«
Er schüttelte den Kopf.
»Das hier ist sehr guter Käse, weißt du? Und das sind sehr gute Trauben. Und auch sehr guter Wein. Möchtest du übrigens einen Schluck?«
»Nein, nein. Danke.«
Uff, dachte sie, das hätte geschmerzt, wenn sie ihren Mouton-Rothschild mit ihm hätte teilen müssen.
»Alles in Ordnung?«
»Pardon?«
»Ich frage dich, ob alles in Ordnung ist«, wiederholte er.
»Eh … ja. Und bei dir?«
»Müde.«
»Arbeitest du morgen?«
»Nee.«
»Das ist gut, dann kannst du dich ausruhen.«
»Nee.«
Tolle Unterhaltung.
Er rückte näher an den Wohnzimmertisch, nahm eine CD-Hülle in die Hand und packte seinen Stoff aus:
»Soll ich dir eine drehen?«
»Nein, danke.«
»Stimmt ja, du bist ja eine ganz Solide.«
»Ich habe mich für etwas anderes entschieden«, sagte sie und griff nach ihrem Glas.
»Das ist ein Fehler.«
»Warum, ist Alkohol schlimmer als Drogen?«
»Ja. Und du kannst mir glauben, ich habe in meinem Leben schon einige Saufbrüder gesehen. Und außerdem ist das hier keine Droge. Das ist ein Leckerbissen, Quality Street für Große.«
»Wenn du das sagst …«
»Willst du nicht probieren?«
»Nein, ich kenn mich doch. Das würde mir bestimmt gefallen!«
»Na und?«
»Nichts und. Ich habe nur ein Problem mit der Voltzahl. Wie soll ich sagen? Ich habe oft das Gefühl, mir fehlt ein Knopf. Du weißt schon, so ein Teil, mit dem man die Lautstärke regelt. Ich gehe immer zu weit, in die eine wie in die andere Richtung. Ich finde nie das richtige Gleichgewicht, und es nimmt immer ein böses Ende, das ist mir so mit auf den Weg gegeben.«
Sie war von sich selbst überrascht. Warum vertraute sie sich ihm an? Ein leichter Rausch vielleicht?
»Wenn ich trinke, trink ich zuviel, wenn ich rauche, mach ich mich kaputt, wenn ich liebe, verlier ich den Verstand, und wenn ich arbeite, verausgabe ich mich völlig. Ich kann nichts normal machen, ruhig, ich …«
»Und wenn du haßt?«
»Das weiß ich nicht.«
»Ich dachte, du haßt mich?«
»Noch nicht«, lächelte sie, »noch nicht … Wirst schon sehen. Wenn es soweit ist, wirst du den Unterschied sehen.«
»Okay. Und jetzt? Ist deine Messe zu Ende?«
»Ja.«
»Was hören wir jetzt?«
»Eh … Ehrlich gesagt weiß ich nicht so recht, ob wir den gleichen Geschmack haben.«
»Vielleicht haben wir auch mal irgendwas gemeinsam. Warte. Laß mich nachdenken. Ich bin sicher, daß ich einen Sänger finde, der dir auch gefällt.«
»Nur zu.«
Er konzentrierte sich auf die Herstellung seines Joints. Als er fertig war, ging er in sein Zimmer, kam zurück und kauerte sich vor die Anlage.
»Was ist das?«
»Eine Weiberfalle.«
»Richard Cocciante?«
»Nix da.«
»Julio Iglesias, Luis Mariano? Frédéric François?«
»Nein.«
»Herbert Léonard?«
»Psst.«
»Ah! Ich weiß! Roch Voisine!«
I guess I’ll have to say … This album is dedicated to you …
»Neeeeeee.«
»Dooooooch.«
»Marvin?«
»He!« sagte er und schlug mit den Armen aus, »eine Weiberfalle. Hab ich doch gesagt.«
»Den liebe ich.«
»Ich weiß.«
»Sind wir so durchschaubar?«
»Nein, leider seid ihr überhaupt nicht durchschaubar, aber Marvin bringt’s jedesmal. Ich hab noch nie ein Mädchen getroffen, das bei ihm nicht schwach wird.«
»Noch nie?«
»Nie, nie, nie. Doch, natürlich! Aber ich erinnere mich nicht mehr. Die zählten nicht. Oder wir sind gar nicht erst soweit gekommen.«
»Hast du viele Mädchen gekannt?«
»Was meinst du mit gekannt?«
»He! Warum nimmst du sie wieder raus?«
»Ich hab mich geirrt, die wollt ich gar nicht auflegen.«
»Doch, laß sie laufen! Das ist meine Lieblings-CD! Du wolltest Sexual Healing, stimmt’s? Pfff, was seid ihr durchschaubar, alle miteinander. Kennst du wenigstens die Geschichte von diesem Album?«
»Welchem?«
»Here my dear.«
»Nein, die hier hör ich nicht so oft.«
»Soll ich sie dir erzählen?«
»Moment, ich mach’s mir erst bequem. Gib mir ein Kissen.«
Er zündete seinen Joint an und legte sich hin wie ein alter Römer, den Kopf in die Hand gestützt.
»Schieß los.«
»Okay. Aber ich bin nicht Philibert, ich geb dir einen Abriß in groben Zügen. Also Here my dear, das heißt ungefähr so viel wie: Hier nimm, meine Liebe.«
»Meine Liebe im Sinne von love?«
»Nein, meine Liebe im Sinne von mein Schatz«, korrigierte sie ihn. »Marvins erste große Liebe war ein Mädchen namens Anna Gordy. Es heißt, die erste Liebe ist immer die letzte, ich weiß nicht, ob das stimmt, aber bei ihm ist klar, daß er nicht der wäre, der er ist, wenn er sie nicht getroffen hätte. Sie war die Schwester eines hohen Tiers in der Motown-Szene, des Gründers, glaube ich: Berry Gordy. Sie war in der Szene supergut eingeführt, und er scharrte ungeduldig mit den Füßen, quoll über vor Talent, er war gerade mal zwanzig und sie fast doppelt so alt, als sie sich kennenlernten. Also, Liebe auf den ersten Blick, Leidenschaft, Romanze, Geldgeschichten und der ganze Kladderadatsch, es war passiert. Sie war es, die ihm zum Erfolg verholfen, ihn auf den Weg gebracht, ihn unterstützt, ihn geführt, ihn ermuntert hat etc. Eine Art Pygmalion, wenn du so willst.«
»Eine Art was?«
»Eine Art Guru, Coach, Cheerleader. Sie hatten große Probleme, ein Kind zu kriegen, und adoptierten schließlich eins, dann – wir spulen vor und sind im Jahr 1977, ihre Ehe ist angeschlagen. Er war nach oben katapultiert, ein Star, ein Gott fast. Und ihre Scheidung war wie alle Scheidungen eine schmutzige Angelegenheit. Du kannst dir vorstellen, die Scheidungssumme war horrend. Kurzum, es war zutiefst verletzend, und um alle zu beschwichtigen und ihre Konten zu saldieren, schlug Marvins Rechtsanwalt vor, daß alle Tantiemen an seinem nächsten Album in die Geldkatze der Ex fließen sollten. Der Richter war einverstanden, und unser Idol rieb sich die Hände: Er stellte sich vor, daß er ihr ein Album hinrotzen würde, schnell gemacht, gut gemacht, um sich von dieser Bürde zu befreien. Nur daß er es nicht konnte. Man konnte eine Liebesgeschichte nicht so einfach verscherbeln. Das heißt … Manche können es ziemlich gut, er nicht. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr fand er, daß die Gelegenheit zu günstig wäre … oder zu erbärmlich. Also zog er sich zurück und komponierte ein kleines Wunderwerk, das ihre ganze Geschichte nachzeichnet: ihre erste Begegnung, ihre Leidenschaft, ihre ersten Bruchstellen, ihr Kind, ihre Eifersucht, ihren Haß, ihre Wut … Hörst du? Anger, wenn alles kaputtgeht? Dann die Beruhigung und der Beginn einer neuen Liebe. Es ist ein wunderschönes Geschenk, findest du nicht? Er hat alles gegeben, er hat alles aus sich herausgeholt, um ein Album zu machen, das ihm nicht einmal einen Cent einbringen würde.«
»Hat ihr das gefallen?«
»Wem, der Ex?«
»Ja.«
»Nein, sie hat es gehaßt. Sie war stinkwütend und hat ihm lange Zeit vorgehalten, ihr Privatleben in der Öffentlichkeit breitgetreten zu haben. Hier, das ist es: This is Anna’s Song … Hörst du, wie schön? Du mußt zugeben, das klingt nicht nach Rache. Das klingt immer noch nach Liebe.«
»Jaaa.«
»Stimmt dich das nachdenklich?«
»Glaubst du daran?«
»Woran?«
»Daß die erste Liebe immer die letzte ist?«
»Ich weiß nicht. Ich hoffe nicht.«
Sie hörten sich die CD zu Ende an, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
»Auf jetzt. Fast vier, Scheiße. Ich werd ja morgen in Form sein.«
Er stand auf.
»Gehst du zu deiner Familie?«
»Zu dem, was davon übrig ist, ja.«
»Ist denn nicht mehr viel davon übrig?«
»So viel«, sagte er und hielt Daumen und Zeigefinger vor sein Auge.
»Und du?«
»So viel«, antwortete sie und hielt die Hand über den Kopf.
»Na dann, willkommen im Club. Okay … Gute Nacht.«
»Schläfst du hier?«
»Stört es dich?«
»Nee, nee, ich wollt’s nur wissen.«
Er drehte sich um: »Schläfst du mit mir?«
»Pardon?«
»Nee, nee, ich wollt’s nur wissen.«
Er grinste sich eins.
13
Als sie gegen elf aufstand, war er schon weg. Sie kochte sich eine große Kanne Tee und ging wieder ins Bett.
Dürfte ich nur eine einzige Begebenheit aus meinem Leben berichten, wählte ich diese: Ich war sieben Jahre alt, als der Postbote meinen Kopf überfuhr …
Am späten Nachmittag riß sie sich von ihrer Geschichte los, um Tabak zu kaufen. An einem Feiertag würde das nicht leicht sein, aber egal, es war ohnehin vor allem ein Vorwand, damit sich die Geschichte setzen konnte und sie später die Freude hätte, zu ihrem neugewonnenen Freund zurückzukehren.
Die großen Avenuen im 7. Arrondissement waren menschenleer. Sie lief lange auf der Suche nach einem offenen Café und nutzte die Gelegenheit, um bei ihrem Onkel anzurufen. Das Gejammer ihrer Mutter (ich hab zu viel gegessen etc.) ging im fernen Wohlwollen familiärer Herzensergüsse unter.
Viele Weihnachtsbäume waren schon auf den Bürgersteigen gelandet.
Sie blieb einen Moment stehen, um den Rollschuhakrobaten am Trocadero zuzuschauen, und bedauerte, daß sie ihr Heft nicht mitgenommen hatte. Mehr noch als die oft ausgefeilten und sinnlosen Kapriolen mochte sie ihre einfallsreichen Bastelarbeiten: wacklige Sprungbretter, leuchtende Pylonen, in einer Reihe aufgestellte Bierdosen, umgedrehte Paletten und tausend andere Arten, sich auf die Schnauze zu legen und dabei die Hose zu verlieren.
Sie dachte an Philibert. Was er wohl gerade machte?
Bald verschwand die Sonne, und die Kälte lastete mit einem Mal auf ihren Schultern. Sie bestellte in einem der vornehmen Lokale am Platz ein Club-Sandwich und malte auf ihre Papierserviette die blasierten Gesichter der Schnösel dieses Viertels, die die Schecks ihrer Mamis unterschrieben und dabei die Taille eines bezaubernden Mädchens umfingen, das aufgebrezelt war wie eine Barbiepuppe.
Sie las noch fünf Millimeter von Brady Udall und ging leicht fröstelnd zurück über die Seine.
Sie verging vor Einsamkeit.
Ich vergehe vor Einsamkeit, wiederholte sie leise, ich vergehe vor Einsamkeit.
Sollte sie ins Kino gehen? Pff … Und mit wem sollte sie hinterher über den Film sprechen? Wofür sind Emotionen gut, wenn man allein ist? Sie stemmte sich mit letzter Kraft gegen das Tor und war ziemlich enttäuscht, die Wohnung leer vorzufinden.
Sie betätigte sich ein wenig im Haushalt, um auf andere Gedanken zu kommen, und nahm ihr Buch wieder zur Hand. Es gibt keinen Kummer, über den ein Buch nicht hinwegtrösten könnte, sagte der große Dichter. Wir werden sehen.
Als sie den Schlüssel in der Tür hörte, tat sie ganz unbeteiligt, kringelte sich auf dem Kanapee zusammen und schlug die Beine unter.
Er kam mit einem Mädchen. Einem anderen. Weniger grell.
Sie gingen schnell über den Flur und zogen sich in sein Zimmer zurück.
Camille legte erneut Musik auf, um ihre Liebesspiele zu übertönen.
Hmm.
Sie war mies drauf. So nannte man das doch, oder? Mies drauf.
Schließlich nahm sie ihr Buch und verzog sich in die Küche, ans andere Ende der Wohnung.
Wenig später bekam sie ihre Unterhaltung in der Diele mit.
»Du kommst also nicht mit?« fragte sie verwundert.
»Nee, ich bin todmüde, ich hab keine Lust auszugehen.«
»Hör auf, das ist doch zum Kotzen. Deinetwegen hab ich meine ganze Familie versetzt. Du hattest mir versprochen, daß wir essen gehen.«
»Ich sag doch, ich bin todmüde.«
»Wenigstens was trinken.«
»Hast du Durst? Willst du ein Bier?«
»Nicht hier.«
»He … heute ist eh alles zu. Und außerdem arbeite ich morgen!«
»Ich faß es nicht. Dann kann ich ja wohl gehen, oder?«
»Komm schon«, fügte er sanfter hinzu, »du willst mir doch jetzt keine Szene machen. Komm morgen bei mir im Laden vorbei.«
»Wann?«
»Gegen Mitternacht.«
»Gegen Mitternacht. Du spinnst wohl. Und tschüß!«
»Bist du eingeschnappt?«
»Tschüß.«
Er hatte nicht damit gerechnet, sie in der Küche zu finden, eingewickelt in ihre Daunendecke.
»Du bist hier?«
Sie sah auf, ohne zu antworten.
»Warum siehst du mich so an?«
»Pardon?«
»Wie ein Stück Dreck.«
»Überhaupt nicht!«
»Doch, doch, das seh ich doch«, erregte er sich. »Gibt’s ein Problem? Stört dich was?«
»Schon gut, ja? Laß mich in Ruhe. Ich hab überhaupt nichts gesagt. Dein Leben ist mir total egal. Mach, was du willst! Ich bin nicht deine Mutter!«
»Gut. Das ist auch besser so.«
»Was gibt’s zu futtern?« fragte er und inspizierte das Innere des Kühlschranks, »nichts natürlich. Hier is nie was drin. Wovon lebt ihr bloß, Philibert und du? Von euren Büchern? Von Fliegen, die ihr euch gefangen habt?«
Camille seufzte und sammelte die Zipfel ihrer Decke zusammen.
»Verziehst du dich? Hast du schon gegessen?«
»Ja.«
»Ah ja, richtig, man könnte meinen, du hast ein bißchen zugelegt.«
»He«, sie drehte sich um und blaffte zurück, »ich misch mich nicht in dein Leben ein und du dich nicht in meins, okay? Außerdem, wolltest du nicht nach den Feiertagen bei einem Kumpel unterschlüpfen? Wenn das so ist, müssen wir nur noch eine Woche durchhalten. Das sollten wir doch schaffen, oder? Hör zu, am einfachsten ist, du sprichst gar nicht mehr mit mir.«
Etwas später klopfte er an ihre Zimmertür.
»Ja?«
Er warf ein Päckchen auf ihr Bett.
»Was ist das?«
Er war schon wieder gegangen.
Es war ein weiches, viereckiges Päckchen. Das Papier war scheußlich, völlig zerknittert, als wäre es schon mehrmals benutzt worden, und es verströmte einen seltsamen Geruch. Einen miefigen Geruch. Nach Kantinenessen.
Camille packte es vorsichtig aus und glaubte zunächst, es sei ein Putzlappen. Dubioses Geschenk des Schönlings von nebenan. Nicht doch, es war ein Schal, sehr lang, sehr weitmaschig und eher schlecht gestrickt: ein Loch, ein Fädchen, zwei Maschen, ein Loch, ein Fädchen etc. Ein neues Muster, vielleicht? Die Farben waren auch … na ja … speziell.
Eine Nachricht lag bei.
Die Schrift einer Grundschullehrerin der Jahrhundertwende, hellblau, zittrig und voller Schleifen, entschuldigte sich:
Mademoiselle,
Franck konnte mir nicht sagen, welche Augenfarbe Sie haben, also habe ich von allem etwas genommen. Ich wünsche Ihnen fröhliche Weihnachten.
Paulette Lestafier
Camille biß sich auf die Lippen. Neben dem Buch der Kesslers, das nicht zählte, weil es etwas in der Art von »Ja, ja, es gibt Menschen, die ein Werk hervorbringen« implizierte, war es ihr einziges Geschenk.
Ui, war es häßlich. Oh, war es schön.
Sie setzte sich in ihrem Bett auf und schlang den Schal wie eine Boa um den Hals, sehr zur Belustigung des Marquis.
Pu pu pi du wuaaah …
Wer war diese Paulette? Seine Mutter?
Mitten in der Nacht hatte sie ihr Buch durch.
Gut. Weihnachten war vorbei.
14
Von neuem dieselbe Leier: Pofen und Malochen. Franck sprach nicht mehr mit ihr, und sie mied ihn, so gut es ging. Nachts war er selten da.
Camille unternahm das eine oder andere. Sie sah sich Botticelli im Luxembourg an, Zao Wou-Ki im Jeu de paume, aber verdrehte die Augen, als sie die Schlange bei Vuillard sah. Und gegenüber gab es Gauguin! Was für ein Dilemma! Vuillard war schon toll, aber Gauguin – ein Gigant! Sie stand da wie Buridans Eselin, die sich nicht entscheiden konnte und hin- und hergerissen war zwischen dem Pont-Aven, den Marquesa-Inseln und der Place Vintimille. Schrecklich war das.
Schließlich malte sie die Leute in der Schlange, das Dach des Grand Palais und die Treppe des Petit Palais. Eine Japanerin kam auf sie zu und flehte sie an, ihr bei Vuitton eine Tasche zu kaufen. Sie hielt ihr vier Hunderteuroscheine hin und führte sich auf, als sei es eine Angelegenheit auf Leben und Tod. Camille breitete die Arme aus:
»Look. Look at me. I am too dirty.« Sie zeigte ihr die ausgelatschten Treter, die zu weite Jeans, den dicken Pulli Stil LKW-Fahrer, den verrückten Schal und den Soldatenmantel, den Philibert ihr geliehen hatte. »They won’t let me go in the shop.« Die junge Frau zog eine Schnute, packte ihre Scheine wieder ein und quatschte zehn Meter weiter jemand anderen an.
Entschlossen nahm sie einen Umweg über die Avenue Montaigne. Um nachzusehen.
Die Wachmänner waren wirklich beeindruckend. Sie haßte dieses Viertel, in dem das Geld bot, was man am wenigsten gern verschenkte: schlechten Geschmack, die Macht der Arroganz. Vor den Schaufensterauslagen von Malo mit seinen Kaschmirpullovern ging sie schneller – zu viele Erinnerungen – und kehrte an den Quais entlang zurück.
Nichts Nennenswertes bei der Arbeit. Die Kälte, wenn sie gestempelt hatte, war noch am schwersten zu ertragen.
Sie ging allein nach Hause, aß allein, schlief allein und hörte Vivaldi, die Arme um die Knie geschlungen.
Camille hatte Pläne für Silvester. Sie hatte überhaupt keine Lust, hinzugehen, hatte ihre dreißig Euro Eintrittsgeld aber längst bezahlt, um ihre Ruhe zu haben und nicht ständig belatschert zu werden.
»Du mußt ausgehen«, schimpfte sie mit sich.
»Aber ich geh nicht gern aus.«
»Warum nicht?«
»Ich weiß nicht.«
»Hast du Angst?«
»Ja.«
»Wovor?«
»Ich habe Angst, daß zuviel Bodensatz aufgewirbelt wird. Und außerdem … hab ich auch das Gefühl auszugehen, wenn ich mich in meinem Innern verlaufe. Ich gehe spazieren. Dort ist es ganz schön groß.«
»Machst du Witze? Es ist winzig klein! Komm schon, dein Bodensatz riecht schon ranzig.«
Solcherart Unterhaltung zwischen sich und ihrem armen Gewissen zerrte stundenlang an ihrem Verstand.
Als sie an diesem Abend nach Hause zurückkehrte, fand sie ihn auf dem Treppenabsatz:
»Hast du deinen Schlüssel vergessen?«
»…«
»Wartest du schon lange?«
Er zeigte trotzig auf seinen Mund, um ihr in Erinnerung zu rufen, daß er nicht sprechen durfte. Sie zuckte mit den Schultern. Aus dem Alter für solche Spielchen war sie heraus.
Er legte sich schlafen, ohne zu duschen, ohne zu rauchen, ohne sie auch nur ansatzweise zu ärgern. Er war völlig erledigt.
Am nächsten Morgen kam er gegen halb elf aus seinem Zimmer, er hatte den Wecker nicht gehört und besaß nicht einmal die Kraft zu motzen. Sie war in der Küche, er setzte sich ihr gegenüber, nahm sich einen Liter Kaffee und brauchte eine Weile, bis er sich dazu durchringen konnte, ihn zu trinken.
»Alles in Ordnung?«
»Müde.«
»Machst du nie Urlaub?«
»Doch. Die ersten Januartage. Für meinen Umzug.«
Sie sah aus dem Fenster.
»Bist du um drei Uhr da?«
»Um dir aufzumachen?«
»Ja.«
»Ja.«
»Gehst du nie raus?«
»Doch, kommt schon vor, aber heute nachmittag gehe ich nicht raus, weil du hier sonst nicht reinkommst.«
Er nickte wie ein Zombie:
»Okay, ich muß los, sonst werd ich einen Kopf kürzer gemacht.«
Er stand auf, um seine Schale zu spülen.
»Was hat deine Mutter für eine Adresse?«
Er erstarrte vor der Spüle.
»Warum fragst du?«
»Um ihr zu danken.«
»Ihr … zzzzu …« er hatte einen Frosch im Hals, »ihr zu danken, wofür?«
»Na, für den Schal.«
»Ach so. Aber den hat doch nicht meine Mutter gemacht, sondern meine Omi!« belehrte er sie erleichtert, »nur meine Omi kann so gut stricken!«
Camille lächelte.
»Du mußt ihn nicht anziehen, weißt du?«
»Er gefällt mir gut.«
»Ich bin richtig zusammengezuckt, als sie ihn mir gezeigt hat.«
Er lachte.
»Und dabei ist das noch gar nix. Wenn du den für Philibert sehen würdest.«
»Wie ist der?«
»Orange und grün.«
»Ich bin sicher, er wird ihn tragen. Er wird es nur bedauern, daß er ihr zum Dank keinen Handkuß geben kann.«
»Ja, das habe ich auch gedacht, als ich gefahren bin. Zum Glück sind die Sachen für euch. Ihr zwei seid die einzigen Menschen auf dieser Welt, die imstande sind, diese häßlichen Dinger zu tragen, ohne dabei lächerlich zu wirken.«
Sie betrachtete ihn:
»Ha, ist dir aufgefallen, daß du gerade was Nettes gesagt hast?«
»Ist es nett, euch als Clowns zu bezeichnen?«
»Oh Pardon. Ich dachte, du sprichst von unserer natürlichen Klasse …«
Es dauerte einen Moment, bis er ihr antwortete:
»Nein, ich spreche von … von eurer Freiheit, glaube ich. Von dem Glück, das ihr habt, für euch zu leben und auf alles andere zu pfeifen.«
In dem Moment klingelte sein Handy. Sie hatte kein Glück, wenn er ausnahmsweise einmal ins Sinnieren geriet.
»Bin schon da, Chef, bin schon da … Aber klar doch, ich bin fertig … Na ja, die kann Jean-Luc doch machen, oder … Moment mal, Chef, ich versuche gerade ein Mädchen rumzukriegen, das deutlich intelligenter ist als ich, ist doch klar, daß das mehr Zeit braucht als sonst … Was? Nee, da hab ich noch nicht angerufen … Aber ich hab Ihnen doch schon gesagt, daß der nicht kann … Ich weiß, daß alle überlastet sind, das weiß ich … Okay, ich kümmer mich drum … Ich ruf ihn gleich an … Was? Das Mädchen sausen lassen? Ja, Sie haben bestimmt recht, Chef.«
»Das war mein Chef«, erklärte er ihr und warf ihr ein schiefes Lächeln zu.
»Ach ja?« fragte sie erstaunt.
Er trocknete seine Kaffeeschale ab, zog von dannen und fing die Tür gerade so weit ab, daß sie nicht knallte.
Schön, das Mädchen war blöd, aber ganz und gar nicht dumm, das war das Gute.
Bei jeder anderen Tussi hätte er aufgelegt und fertig. Aber ihr hatte er gesagt, es sei sein Chef, um sie zum Lachen zu bringen, und sie war so gewitzt, darauf anzuspringen und erstaunt zu tun. Eine Unterhaltung mit ihr war wie Pingpong: Sie hielt das Tempo und schmetterte die Bälle in die Ecken, wenn man am wenigsten darauf gefaßt war, das gab einem das Gefühl, weniger blöd zu sein.
Er rannte die Treppe hinunter, hielt sich dabei am Geländer fest und hörte über seinem Kopf die Räder und das Getriebe quietschen. Mit Philibert war es genauso, er unterhielt sich gerne mit ihm.
Er wußte nämlich, daß er gar nicht so doof war, wie er aussah, sein Problem waren eben die Wörter. Ihm fehlten immer die Wörter, deshalb mußte er laut werden, um sich verständlich zu machen. Stimmt schon, das war total beschissen, verdammt!
Aus all diesen Gründen tat es ihm leid, hier auszuziehen. Was würde er bei Kermadec machen? Picheln, rauchen, sich DVDs reinziehen und auf dem Klo in Motorradzeitschriften blättern.
Super.
Zurück auf zwanzig.
Zerstreut versah er seinen Dienst.
Das einzige Mädchen im ganzen Universum, das in der Lage war, einen Schal zu tragen, den seine Oma gestrickt hatte, und dabei noch gut auszusehen, würde er nie haben können.
Das Leben war schon ätzend.
Er sah noch mal bei den Dessertköchen vorbei, bevor er ging, fing sich einen Anpfiff ein, weil er seinen ehemaligen Lehrling noch immer nicht angerufen hatte, und ging nach Hause, um zu schlafen.
Er schlief nur eine Stunde, weil er in den Waschsalon mußte. Er suchte seine Klamotten zusammen und steckte sie in seinen Bettbezug.
15
Nicht zu fassen.
Sie war ebenfalls da. Saß vor der Maschine Nummer sieben, ihre Tasche mit nasser Wäsche zwischen den Beinen, und las.
Er setzte sich ihr gegenüber, ohne daß sie ihn bemerkte. Es faszinierte ihn immer wieder. Wie sie und Philibert sich konzentrieren konnten. Das erinnerte ihn an einen Werbespot, einen Typen, der in aller Seelenruhe seinen Boursin aß, während die Welt um ihn herum einstürzte. Ihn erinnerte vieles an Werbespots. Das lag bestimmt daran, daß er als kleiner Junge so viel ferngesehen hatte.
Er spielte ein kleines Spielchen: Stell dir vor, du betrittst an einem 29. Dezember gegen fünf Uhr nachmittags diesen versifften Waschsalon in der Avenue de La Bourdonnais und siehst diese Gestalt zum ersten Mal in deinem Leben, was würdest du sagen?
Er versenkte sich tief in seinen Plastiksitz, steckte die Hände in die Jackentaschen und kniff die Augen zusammen.
Zuerst würdest du denken, ein Typ. Wie beim ersten Mal. Keine Tunte zwar, aber zumindest ein ziemlich femininer Typ. Du würdest also aufhören, nach ihm zu schielen. Obwohl … Du hättest trotz allem deine Zweifel. Aufgrund der Hände, des Halses, der Art, mit dem Daumen über die Unterlippe zu streichen. Ja, du würdest stutzen. War es am Ende vielleicht doch ein Mädchen? Ein Mädchen, das in einem Zelt steckte? Als wollte sie ihren Körper verstecken? Du würdest versuchen, woandershin zu schauen, aber du müßtest sie immer wieder anstarren. Weil sie etwas hatte. Eine besondere Aura. Oder war es vielleicht das Licht?
Genau. Das war’s.
Wenn du an einem 29. Dezember diesen versifften Waschsalon in der Avenue de La Bourdonnais betreten und im tristen Licht der Neonlampen diese Gestalt sehen würdest, würdest du dir genau das sagen: Scheiße Mann. Ein Engel …
In dem Moment sah sie auf, erblickte ihn, verharrte einen Moment reglos, als hätte sie ihn nicht erkannt, und fing schließlich an zu lächeln. Oh, fast unmerklich, ein leichtes Aufleuchten, ein kleines Wiedererkennen unter Stammgästen.
»Sind das deine Flügel?« fragte er und zeigte auf ihre Tasche.
»Pardon?«
»Ach nix.«
Einer der Trockner war durchgelaufen, und sie seufzte beim Blick auf die Wanduhr. Ein Penner ging zur Maschine. Er holte eine Jacke und einen ausgefransten Schlafsack heraus.
Jetzt wurde es interessant. Seine Theorie auf die Probe gestellt. Keine normale Frau würde nach einem Penner ihre Sachen in den Trockner stecken, und er wußte, wovon er sprach: Er hatte fast fünfzehn Jahre Waschsalon-Erfahrung hinter sich.
Er erforschte ihr Gesicht.